Rede zum Haushalt 2022

Stefanie Wittich

Haushalts- und Abschiedsrede von Stefanie Wittich (stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Marburger Linken) u. a. zum kommenden Haushalt 2022 der Stadt Marburg, die von der Marburger Linken abgelehnte Gewerbesteuersenkung sowie die sozial-ökologische Koaltion:

 

Sehr geehrte Stadtverordnetenvorsteherin, sehr geehrte Stadtverordnete, sehr geehrte Gäste,

ich darf Ihnen heute die zentralen Aspekte der Marburger Linken für diesen Haushalt darlegen. Nach Renate Bastian ist der Haushalt „der politische Wille in Zahlen“. Der politische Wille dieses Haushalts ist der einer sozial-ökologischen Koalition mit der Marburger Linken. Aus unserer Sicht wurde sowohl im Koalitionsvertrag als auch in diesem Haushalt viel erreicht, was unsere Stadt sozialer, ökologischer und zukunftsfähiger macht.

Im Bereich Wohnen und Bauen werden 3 Mio€ für einen sozialen Energiebonus verausgabt (467030). 300.000€ werden für in kommunale Wohnraumförderung und den Ankauf von Belegungsrechten (555010) investiert. Im Koalitionsvertrag finden sich zudem wichtige Wohnbauprojekte, ein Bekenntnis zu Mieter*innenbeiräten sowie Maßnahmen gegen Stromsperren und gegen unfreiwillige Obdachlosigkeit. Und sogar die CDU ist nun Fan davon, dass privater in öffentlichen Boden umgewandelt wird. Das ist doch ein politischer Erfolg!

Wir haben viele wichtige Entscheidungen für die öffentliche Infrastruktur getroffen. Angefangen bei einem integrierten Stadtentwicklungsplan, einem Leerstands- und Freiflächenkataster, über die Sanierung von Spielplätzen wie dem Drachenspielplatz im größten und kinderreichsten Stadtteil Richtsberg (467010), Investitionen im Café Trauma (241010), mehreren Millionen Euro für die Sanierung von Schulen und KiTas sowie der Ausstattung von Schulen für die digitale Teilhabe. Wir haben eine Förderung von Energiegenossenschaften, einen Vorrang der Stadtwerke bei der Nutzung von Windenergie und wir werden das Eigenkapital der Stadtwerke, der SEG und der GeWoBau um mehrere Millionen Euro aufstocken und damit die öffentliche Hand stärken.

Die Marburger Linke hat im Koalitionsvertrag einen Auftrag zur Erziehung zur Kultur des Friedens ebenso erwirkt wie eine Kritik der Bundeswehr an Schulen. Im Vertrag steht endlich, „dass es auch in unserer […] Stadt strukturellen Rassismus, […] Diskriminierung sowie rechtsextremistische Tendenzen gibt.“ Um dagegen anzugehen, wird „eine wissenschaftliche Studie zu rassistischer Diskriminierung von Marburger*innen im Alltag und Institutionen“ vom Arbeitsamt bis zur Stadtpolizei in Auftrag gegeben. Die Auseinandersetzung mit Rassismus soll im Stadtbild sichtbar gemacht, selbstverwaltete Räume für marginalisierte Gruppen unterstützt sowie Sensibilisierung für eine diverse Stadtgesellschaft gestärkt werden.

Für die Verbesserung des umweltfreundlichen Verkehrs werden mehr Busse und Fahrradabstellanlagen in Betrieb gebracht. Fuß- und Radwege werden ausgebaut. Eine Fußgänger*innenbrücke am Afföller Wehr wird ebenso gefördert wie (666010) der barrierefreie Ausbau von Bushaltestellen, die Erneuerung von Wegen und Treppen oder die Machbarkeitsstudie für eine Regiotram (182010), ein ganz wichtiges linkes Projekt. Die Stadtwerke bekommen 600.000€ für den kostenlosen Busverkehr an Wochenenden (110700) und – jetzt kommt das Beste: Endlich, endlich, endlich gibt es einen Nulltarif mit Stadtpass! Mehrere tausend Menschen in dieser Stadt, die schlichtweg keine Kohle haben, können kostenlos mit dem Bus fahren und so am öffentlichen Leben teilhaben. Sie müssen nicht mehr rechnen, ob das Schwimmbad, der Arztbesuch oder das Stadtfest für sie ausfällt, weil das Geld nicht für den Bus reicht. Vor allem müssen sie nicht ständig irgendwo hinrennen und tausend Papiere mitschleppen, um das zu bekommen, was sich andere einfach so leisten können. Diese Drangsalierung armer Menschen durch formale Bürokratie entfällt, denn sie können mit ihrem Stadtpass und wenigstens einer Sorge weniger mit dem Bus fahren.

Wir freuen uns sehr über diesen politischen Erfolg! Mein besonderer Dank gilt hier Nico Biver, der sich für diese wichtige sozialpolitische Errungenschaft seit 20, ich betone seit 20!!! Jahren einsetzt und die nun im nächsten Jahr endlich Wirklichkeit wird. Bei der Umsetzung vertraue ich auch ganz unserem Oberbürgermeister. Ich sag mal: Wer es schafft, diese Koalition für eine Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes zu gewinnen, der schafft es auch, mit dem RMV einen Vertrag für die folgenden Jahre zu verhandeln, damit Stadtpassinhaber*innen kostenlos Bus fahren.

Nicht zuletzt konnten wir erreichen, dass die städtischen Beschäftigten einen Lohn von mindestens 13€ erhalten, dass es 700.000€ für einen Maßnahmenplan gegen Armut samt ständiger Armutskonferenzen sowie die Stelle eines Armutsbeauftragten gibt, der oder die genau schaut, an welchen Stellen wir am meisten gegen Armut bewirken, wie wir mit unbürokratischen Mitteln Unterstützung leisten und wo wir den Reichen nehmen und den Armen geben können!

Die Marburger Linke ist mit einem einstimmigen Beschluss von Fraktion und Kreisvorstand in die Koalitionsverhandlungen gegangen. Nach dem Mehrheitsvotum der Mitgliederversammlung der Marburger Linken haben unsere Kreisvorsitzende Inge Sturm und unsere Fraktionsvorsitzende Renate Bastian den Koalitionsvertrag am 2. Dezember unterschrieben. Der Kreisvorstand der Linken hat in seiner gestrigen Sitzung seine positive Haltung zum Marburger Koalitionsvertrag mehrheitlich bestätigt. Dieser Vertrag ist aus unserer Sicht bestimmt nicht perfekt. Wir sind diesen Weg aber gegangen, weil wir viele soziale Errungenschaften für die Menschen in dieser Stadt erreichen konnten, und weil wir fanden, dass die Richtung stimmt.

Die Richtung stimmt für uns aber nicht mehr, wenn wir der Absenkung des Gewerbesteuerhebesatzes zustimmen sollen. Die Marburger Linke hat immer eine Erhöhung des Hebesatzes gefordert. Denn wir sind der Auffassung, dass große Unternehmen durch eine angemessene Gewerbesteuer auf dem Niveau vergleichbarer Städte ihren Beitrag für die Stadt leisten müssen. Sie verdanken schließlich ihre gute wirtschaftliche Position auch der öffentlichen Infrastruktur und dem enormen Einsatz ihrer Beschäftigten.

Auch in Marburg gilt: Wer den Reichen nichts nimmt, kann den Armen nichts geben. Nur ca. ein Fünftel der Unternehmen in Marburg zahlt Gewerbesteuer. Über 80% des Gewerbesteueraufkommens wird von fünf Großunternehmen der Pharma- und Versicherungsbranche aufgebracht. Auch die Corona-Pandemie ändert nichts an der Profitabilität dieser Unternehmen. Manche gewinnen sogar umso mehr. Allein die Firma BioNTech wird 2021 ca. 10 Mrd.€ Gewinn machen. Senken wir den Hebesatz, geben wir diese Ausschüttung direkt an die Aktionär*innen weiter. Profitieren würden vor allem die zwei Menschen, denen fast die Hälfte der BioNtech-Aktien gehört und die dadurch zu den zehn reichsten deutschen und den 150 reichsten Menschen der Welt zählen. Ist das sozial? Nein!

Diese Firma verdankt ihre hohen Gewinne eben nicht nur dem unternehmerischen Geist. Ihre Gewinne werden erzielt dank öffentlich finanzierter Grundlagenforschung, durch den Einsatz vieler hoch qualifizierter Mitarbeiter*innen, die teilweise noch nicht einmal nach Tarif bezahlt werden. BioNTech profitiert aber ebenso wie Facebook oder Google von einer Monopolstellung und konnte daher gegenüber der EU einen überhöhten Verkaufspreis für Impfstoff durchsetzen. Dir Firma hat sich trotz vielfacher Appelle bislang nicht bereit erklärt, wenigstens befristet Patente oder Lizenzen für die Produktion von Impfstoff in ärmeren Ländern freizugeben. Das ist also die Grundlage, auf der der Reichtum unserer Stadt beruht. Können Sie damit leben? Ich kann es nicht.

Aber warum rede ich überhaupt über BioNTech? Nun, in der Zeitung habe ich gelesen, dass die Firma in anderen Kommunen direkt nach Gewerbesteuerhebesatzsenkung gefragt habe. Und das stelle ich mir wirklich hart vor, in einer anderen Kommune NEIN zu sagen! Denn dann musst Du Dich mit den Kommentaren in der Zeitung abzugeben, in denen Dir mit dem wirtschaftlichen Untergang einer ganzen Region gedroht wird. Und am Ende müsstest Du in einer solchen Kommune mit dem Risiko zu leben, dass tatsächlich ein großer Arbeitgeber ginge, und dann kommst Du darauf bis an Dein Lebensende nicht klar, auch wenn Du wüsstest, dass nicht Du schuld daran bist, sondern der verdammte Kapitalismus mit Standortwettbewerb und dem ganzen Mist. Aber dann darfst Du Dir trotzdem jahrelang die „Das haben wir doch gleich gewusst“-Kommentare der CDU und FDP-Fraktion anhören. In einer solchen anderen Kommune wäre das echt hart.

Wohin wir auch schauen, Kommunen sind unterfinanziert. Die Schuldenbremse wird auf Städte und Gemeinden abgewälzt und treibt sie in einen ruinösen Wettbewerb um die niedrigsten Gewerbesteuersätze. Und da bist Du dann einfach auch nur am ‚Ende der Nahrungskette‘ in einem kapitalistischen System, in dem die Gewinne privater Unternehmen wichtiger sind als die Finanzierung der öffentlichen Hand. Daher muss man schon die politischen Ebenen und Handlungsspielräume auseinanderhalten und genau gucken: Was kann ich in einer Kommune bewirken und was nicht?

Ja, wir stimmen heute gegen die Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes. Aber wir wissen auch: Wir erreichen nichts gegen diese Umverteilung von arm nach reich durch den Druck auf kommunale Stadtverordnete. Der wirksamste Weg für eine Umverteilung sind eine Anhebung des Nivellierungssatzes in Hessen und die Wiedereinführung der Vermögensabgabe im Bund.

Aber jetzt nehmen wir einmal an, die Firma BioNTech würde in Marburg eine Senkung des Hebesatzes – sagen wir einmal – anregen. Wer, wenn nicht eine sozial-ökologische Koalition aus SPD, Grünen, Marburger Linke und Klimaliste hätte denn den Arsch in der Hose, zu sagen: Nein, so nicht! Wir lassen uns nicht von Unternehmen vorschreiben, wie wir mit unserem Geld umgehen! Wir machen diesen Unterbietungswettbewerb mit anderen Kommunen nicht mit! Wir machen nicht die Reichen reicher und die Armen ärmer! Wir senken keinen Gewerbesteuerhebesatz! Das wäre sicher ein sehr gewagter Schritt. Aber das wäre auch ein möglicher Schritt, denn man wüsste, dass man all die Konsequenzen gemeinsam tragen würde. Aber dafür würde man – um mal im Bild zu bleiben – eben auch mehr Hintern brauchen als nur die der Marburger Linken. Dafür würde man die Hintern der Klimaliste brauchen, die der Grünen, die der SPD und nicht zuletzt den des Oberbürgermeisters.

Die Marburger Linke ist seit 1997 im Stadtparlament. Meine Genoss*innen waren immer in der Opposition. Der Schritt in die Regierungsverantwortung war für uns ein sehr großer. Denn mit diesem Schritt bekommst Du einiges, aber Du gibst auch einiges auf. Mit der Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes habt Ihr bei uns einen zentralen Punkt getroffen. Nein, nicht irgendeinen Punkt, sondern den einen zentralen Punkt. Ich denke, das war und ist allen Verantwortlichen zu jedem Zeitpunkt klar. Wir wurden mit dieser Entscheidung in eine äußerst schwierige Lage gebracht, aus der wir heute unsere Konsequenzen ziehen.

Für heute kann ich aber sagen: Die Fraktion Marburger Linke lehnt eine Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes ab! Die politische Verantwortung für diese Senkung tragen die CDU, die FDP, die Bürger für Marburg, die SPD, die Grünen und die Klimaliste!

Nun aber zurück zu unserem gesamten Haushalt. Ich persönlich werde also wie alle Mitglieder der Fraktion Marburger Linke die Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes ablehnen. Nun stimmen wir aber am Ende über den Gesamthaushalt ab. Diesem kann ich nur schwer zustimmen, da die Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes als fatal error darin enthalten ist. Ich kann ihn aber auch nicht ablehnen, da dieser Haushalt eben viele Errungenschaften enthält, für die die Marburger Linke lange gekämpft hat. In meiner Abwägung gegen eine Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes und für den Haushalt der sozial-ökologischen Koalition werde ich mich daher in der Abstimmung über den Gesamthaushalt enthalten.

Wir haben die Abstimmung zum Gesamthaushalt für das Jahr 2022 freigegeben. Es steht mir nicht zu, die Position der Genoss*innen hier zu vertreten, die anders als ich abstimmen werden. Daher überlasse ich es ihnen selbst, ihre Positionen hier zu begründen und zu vertreten.

Aus unserer Fraktion wird es also auch Nein-Stimmen zum Gesamthaushalt geben. Nehmen wir die Aussage ernst, dass der Haushalt „der politische Wille in Zahlen“ ist, stellen wir also fest, dass der vorgelegte Haushalt nicht dem politischen Willen aller Mitglieder der Fraktion Marburger Linke entspricht. Die Fraktion steht demzufolge momentan nicht mehr geschlossen hinter dem Programm der Koalition, ein Umstand, den ich persönlich sehr bedauere.

Ich stelle fest: Die Arbeitsgrundlage der Fraktion Marburger Linke für eine Beteiligung in der sozial-ökologischen Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Klimaliste ist nicht mehr gegeben. Die Fraktion Marburger Linke verlässt also diese Koalition und begibt sich nach dieser Stadtverordnetenversammlung auf den Weg der Opposition. Es wird sicher kein leichter Weg und ich hoffe, dass die Marburger Linke trotz allem gestärkt aus dieser Wahlperiode gehen kann.

Diesen Weg werde ich allerdings nicht mitgehen. Wie einige von Ihnen wissen, habe ich bereits am 23. November mein Mandat in der Stadtverordnetenversammlung der Universitätsstadt Marburg mit Wirkung zum 31. Dezember 2021 zurückgegeben. Dies ist also meine letzte Rede in der Stadtverordnetenversammlung dieser Wahlperiode. Daher habe ich diesmal die Aufgabe übernommen, die Haushaltsrede für unsere Fraktion zu halten. Und daher gestatten Sie mir, dass ich am Ende noch ein paar persönliche Worte verliere.

Zunächst einmal möchte ich all denjenigen danken, die mich auf diesem Weg unterstützt haben. Allen voran danke ich Renate Bastian, die mir in ihrem unermüdlichen Einsatz für die Marburger Linke ein großes wenn auch unerreichbares Vorbild ist. Danke, liebe Renate! Ich danke der Stadt Marburg für das Mentoringprogramm „Frauen in die Politik“ und meiner Mentorin Andrea Suntheim-Pichler. Wir können sicher mit Fug und Recht behaupten, das politisch anspruchsvollste Tandem gewesen zu sein. Mit Dir habe ich gelernt, andere Ansichten und ihre Hintergründe zu verstehen, diese zunächst einmal anzuerkennen, Widersprüche auszuhalten und bei aller Differenz respektvoll miteinander umzugehen. Und natürlich habe ich trotzdem immer versucht, Dich von meiner Position zu überzeugen, und manches Mal ist es mir auch gelungen. Und ich danke schließlich auch all den Männern, die sich glaubhaft für mehr Frauen in der Politik einsetzen. Denn wir wissen: Erst, wenn die Stadtverordnetenversammlung genauso divers ist wie unsere Stadtbevölkerung, mit all ihren Geschlechtern, mit all ihren Herkünften, mit all ihren sozialen Schichten und Klassen, erst dann können wir behaupten, alle Menschen in dieser Stadt zu vertreten.

Ich möchte aber auch denjenigen danken, die mir Knüppel zwischen die Beine geworfen haben. Und glaubt mir, es waren sehr viele, und momentan habe ich noch zahlreiche blaue Flecken. Aber ich habe schon einmal meinen Zeh in der Fahrradspeiche gebrochen und kann trotzdem wieder Standwaage. Ich habe schon einmal meinen linken Zeigefinger püriert und kann trotzdem wieder Klavierspielen. Und in den letzten Wochen ist mir öfter die Luft weggeblieben und ich kann trotzdem heute hier sprechen. Insofern werden auch diese blauen Flecken verheilen und aus den Knüppeln mache ich mir ein schönes Weihnachtsfeuer.

Vielen Dank!

Stefanie Wittich
stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Marburger Linken

Marburg, 17.12.2021