"Gegen jede Entmenschlichung!" - Beitrag zur aktuellen Stunde im Kreistag

Rede der Fraktionsvorsitzenden Anna Hofmann zur aktuellen Stunde im Kreistag vom 21.03.2024.

In der aktuellen Stunde vom 21.03.2024 hat die Fraktionsvorsitzende Anna Hofmann eine Rede zum Konflikt in Israel & Palästina, den wir niemanden vorenthalten möchten:

 

Meine Damen und Herren,

Über den Krieg im Nahen Osten zu sprechen ist schwierig.

Es fühlt sich mittlerweile so an, als befände ich mich selbst mitten auf einem Schlachtfeld und würde nicht nur Zeuge des schmerzhaften Leids, das unschuldigen Menschen zugefügt wird, sondern sei Teil dieses Konflikts.

Als gäbe es nur schwarz und weiß und keine Nuancen.

Als würde diese Auseinandersetzung auch hier vor Ort geführt.

Krieg fängt immer da an, wo Worte aufhören und Sprache versagt, das Gegenüber nicht anerkannt und entmenschlicht wird und man einander nicht mehr zuhört.

 

Meine Damen und Herren,

Liebe CDU, hätten Sie die Positionen meiner Fraktion verfolgt und würden nicht entweder unsere Anträge von der Tagesordnung absetzen oder bei aktuellen Stunden rausgehen, dann müsste ihnen eigentlich klar sein, dass die LINKE weder das Existenzrecht Israels infrage stellt, noch Hamas Kriegsverbrechen leugnet.

Unmissverständlich haben wir in unserem Antrag in der Novembersitzung gefordert, sich für einen gerechten Frieden in Nahost einzusetzen, einen Waffenstillstand, die Herausgabe der israelischen Geiseln und eine Zwei-Staaten Lösung.

Das brutale Vorgehen der Hamas und die von ihr angerichteten Massaker sind auch mit Verweis auf das Handeln der Gegenseite nicht zu rechtfertigen; unsere Solidarität gilt den Opfern dieser Verbrechen. Gleichzeitig sind die Reaktionen der israelischen Regierung ebenfalls zu verurteilen und werden von der UN, Amnesty International, der Menschenrechtsorganisation Btselem als Genozid oder genozidale Handlungen eingestuft

 

Meine Damen und Herren,

31.923 Menschen wurden im Gazastreifen seit Oktober getötet, zwei Drittel davon sind Frauen und Kinder.74.096 weitere verletzt, Zehntausende sind verschüttet, vermisst und befinden sich unter den Trümmern

Und die Welt schaut schweigend zu.

12.300 Kinder sind in Gaza in den letzten 4 Monaten gestorben, so viele wie weltweit zwischen 2019 und 2022 zusammen (12.193).

Wenn man die Zahlen toter Kinder mit anderen Konflikten vergleicht:

In Syrien wurden in 11 Jahren dieselbe Anzahl an Kinder getötet, wie in zwei Monaten Gaza- Krieg. In der Ukraine kamen in den letzten zwei Jahren 520 Kinder ums Leben.

In Gaza sind mittlerweile alle 36 Krankenhäuser weitestgehend außer Betrieb. Das Al-Shifa Krankenhaus wurde bereits zum zweiten Mal gestürmt.

95 Journalisten wurden im Konflikt getötet. 374 Personen des Gesundheitspersonals. 168 Mitarbeiterinnen der UN wurden umgebracht, 231 Lehrerinnen und 94 Universitätsprofessoren. 

Alle Universitäten sind in Gaza komplett zerstört worden. Von 737 Schulen sind 280 staatliche Schulen und 65 von der UNRWA geführte Schulen zerstört oder beschädigt worden (Stand 29. Januar).

Das macht Gaza zum tödlichsten Konflikt für Journalisten, UN-Bedienstete und das Gesundheitspersonal seit mindestens 30 Jahren.

Schon dies zeigt, dass wir es nicht mit einem gewöhnlichen Konflikt und konventioneller Kriegsführung zu tun haben. Ein Prozent der palästinensischen Zivilbevölkerung ist bereits gestorben.

Palästinensische Familien hier im Landkreis haben zum Teil über 50 Verwandte verloren.

1,8 Millionen Menschen, Palästinenser, wurden aus ihren Häusern vertrieben und kämpfen jeden Tag um ihr Überlebeben. Sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen. Sie kämpfen um Nahrung und Wasser sowie um medizinische Versorgung und Treibstoff - nur um zu überleben. Eine große Hungersnot droht, da zu wenig Hilfslieferungen in Gaza ankommen.

Kein Ort in Gaza ist sicher. 70 % der Infrastruktur und Wohnungen sind vollständig zerstört. Das ist vergleichbar mit den Flächenbombardierungen größerer Städte im zweiten Weltkrieg, in denen u.a. Dresden, Köln, Hamburg und andere in fast gleichem Umfang dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Es ist auch die Zerstörung der kompletten Kultur, Wissenschaft und Geschichte einer Bevölkerung. Man darf davon ausgehen, dass alle Archive palästinensischer Kultur und Geschichte in Gaza komplett zerstört wurden.

 

Meine Damen und Herren,

Staatsräson kann nicht sein, bedingungslos einer rechten faschistischen israelischen Regierung zu folgen und ihr Waffen zu liefern.

Das Handeln von PolitikerInnen in einem Staat zu kritisieren, bedeutet nicht, eine Entmenschlichung der Zivilbevölkerung vorzunehmen oder dem Staat das Existenzrecht abzusprechen. 

War Israel in den ersten Jahren nach seiner Gründung noch ein Staat, der mit den Kibbuzen und seinem starken gewerkschaftlichen Einfluss auch durch die Arbeiterbewegung bestimmt war, wird er mittlerweile immer stärker durch religiösen Fundamentalismus und ultrarechte Politik geprägt.

 

Meine Damen und Herren,

Faschismus, Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen heißt sich gegen Entmenschlichung auf allen Seiten zu stellen.

Die „Staatsräson“ darf auch nicht bedeuten, dass sogar israelische und jüdische Friedensbewegte und Menschenrechtler/innen bei Nennung der Verbrechen von Besiedlungsgewalt und Kriegsverbrechen unter dem Verdacht des israelbezogenen Antisemitismus von der Debatte in Deutschland ausgeschlossen werden.

Wie vielen jüdischen Menschen möchte Deutschland denn noch das Wort, Räume oder Preise entziehen oder nicht applaudieren??? (Z.B.  Masha Gessen, Ilan Pappe, Emily Dische-Becker, Wieland Hoban, Udi Raz, Yuval Abraham)

Eine Lehre aus dem Faschismus sollte sein, dass man eine Gesellschaft so einrichtet, dass sich eine Geschichte von Entmenschlichung von Bevölkerungsgruppen nicht wiederholt. Dazu gehört eine Kritik der Diskriminierung, eine Thematisierung der Vielfalt an Gewaltgeschehen und ein Fokus auf das Bekämpfen rechten Denkens, rechter Politiken und rechten Terrors.

Man muss vor allem bei sich selbst anfangen. Mit Schaudern erlebe ich gerade eine Migrationsdebatte, in der Geflüchtete zu Menschen zweiter Klasse degradiert werden, wieder über 100% Sanktionen für Bürgergeldbezieher und Pauschalen für Wohnraum diskutiert wird.

Eine Gesellschaft muss man daran messen, wie sie mit den Schwachen, Armen, Ausgegrenzten umgeht.

 

Liebe CDU,

nehmen Sie mir es nicht übel, aber gerade Ihr Umgang mit Antisemitismus ist an vielen Stellen fraglich: Wenn Roland Koch und Kanther schwarze Kassen der CDU in Liechtenstein als jüdisches Privatvermächtnis verschleiert haben - weil angeblich so viele Jüdinnen und Juden im Ausland ihr Erbe der Frankfurter CDU für ihre "Das Boot ist voll Kampagne" und Roland Kochs „Anti doppelte Staatsbürgerschaft"-Kampagne vermachen wollten.  Wenn Erika Steinbach in 1991 - damals noch CDU - die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen wollte und behauptete, Polen hätte im März 1939 bereits mobil gemacht, lange bevor die Wehrmacht einmarschierte. Das zeigt das gerade jene "Entmenschlichung", die sie unserer Fraktion vorwerfen.

 

Meine Damen und Herren,

Aus der Geschichte des 20 Jahrhunderts lässt sich lernen, dass zur Verhinderung seiner Wiederholung nicht mehr Sicherheitszäune, Polizistinnen und verkrampfte Verhältnisse zu Nationalsymbolen gebraucht werden - sondern eine Gesellschaft, in der Minderheiten nicht zu Sündenböcken für die Probleme aller gemacht werden - wo Menschen hinterfragen, was ihnen gelehrt und befohlen wird. Wo man offen diskutiert und einander zuhört und jeder unabhängig von Rasse, Klasse und Geschlecht den Zugang zu Bildung und Sozialsystemen hat.

 

Für diese Prinzipien stehen wir als Linke Fraktion. 

 

Quellen:

taz.de/Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154/

taz.de/Kontroverse-um-Friedenspreis/!5577293/

taz.de/Kulturzentrum-Oyoun-in-Berlin-Neukoelln/!5999103/

www.jungewelt.de/artikel/470285.r%C3%BCckzug-des-tages-claudia-roth.html

taz.de/Hannah-Arendt-Preis-fuer-Masha-Gessen/!5977628/

www.jungewelt.de/artikel/462276.repression-gegen-antizionisten-das-ist-eine-antisemitische-einstellung.html

www.wsws.org/de/articles/2023/11/19/udir-n19.html

www.middleeastmonitor.com/20231112-germany-police-detain-israeli-woman-for-condemning-gaza-genocide/

juedische-stimme.de/rede-von-iris-hefets-und-nadija-samour-bei-der-friedensdemonstration-am-25.11.2023

www.theguardian.com/commentisfree/2023/dec/18/hannah-arendt-prize-masha-gessen-israel-gaza-essay

www.emro.who.int/images/stories/Sitrep_-_issue_22.pdf

www.unrwa.org/resources/reports/unrwa-situation-report-89-situation-gaza-strip-and-west-bank-including-east-Jerusalem

cpj.org/2024/03/journalist-casualties-in-the-israel-gaza-conflict/

www.icij.org/inside-icij/2024/02/over-75-of-all-journalists-killed-in-2023-died-in-gaza-war-per-cpj/

www.aljazeera.com/news/2024/1/24/how-israel-has-destroyed-gazas-schools-and-universities

www.aljazeera.com/opinions/2024/2/14/israels-unrelenting-war-on-gaza-healthcare-requires-urgent-action

www.npr.org/2023/12/03/1215798409/palestinian-journalists-killed-gaza-israel-hamas-war

news.un.org/en/story/2024/01/1145937

www.theguardian.com/world/2024/mar/11/israeli-human-rights-groups-icj-gaza-aid-ruling

www.breakingthesilence.org.il/inside/human-rights-organizations-in-israel-urge-compliance-with-the-ruling-of-the-international-court-of-justice/