Gemeinwohlorientierte Bodenpolitik in Marburg

HF

Die vergangene Stadtverordnetenversammlung war geprägt von intensiven Debatten über die Einführung einer gemeinwohlorientierten Bodenpolitik in Marburg. Wir dokumentierten hier die Rede der Fraktionsvorsitzenden der Marburger Linken, Tanja Bauder-Wöhr. Es gilt das gesprochene Wort:

"Sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,

um es gleich vorweg zu nehmen, wir begrüßen den Grundsatzbeschluss hin zu gemeinwohlorientierter Bodenpolitik. Denn Grundsätzlich stehen wir beim Boden vor dem Dilemma, dass ein nicht vermehrbares Gut, das von der Gemeinschaft alternativlos benötigt wird, privatwirtschaftlich gehandelt wird wie Bananen oder Edelmetalle. Und bereits Ende der 60er Jahre forderte der Deutsche Städtetag: „So warten wir auf bess're Zeiten. Rettet unsere Städte jetzt", im Hinblick auf eine neue Bodenpolitik.

Wie meistens geht es also um die kleinen Schritte, die eine qualitative Veränderung des Eigentumsrechts am Boden bewirken können. Da wäre zuerst das Erbbaurecht, von den Gemeinden wie vom Gesetzgeber jahrzehntelang vernachlässigt. Dabei hat sich das Erbbaurecht seit 1919 in vielen Städten als eine soziale, gerechte und spekulationsfeindliche Eigentumsform bewährt. Was hindert den Gesetzgeber daran, das Erbbaurecht umzugestalten und anwendungsfreundlicher zu machen, zum Beispiel die Beleihungsmöglichkeiten des Erbbaurechts zu verbessern? Warum binden nicht wenigstens die SPD-regierten Länder die Subventionen für den sozialen Mietwohnungsbau an die Auflage der Grundstücksvergabe im Erbbaurecht und unterbinden damit die Spekulation mit diesen Wohnungen, wenn später die Mietpreis- und Belegungsbindungen auslaufen? Erfreulicherweise handelt die Stadt Ulm seit 125 Jahre hier im Sinne des Erbbaurechts und kann so Spekulationen mit dem Gut Boden entgegenwirken.

Jeder Mensch braucht eine Wohnung, ob Alleinerziehend, ob jung ob alt, ob in einer Wohngemeinschaft, ob die erste Wohnung für die Ausbildung oder das Studium, oder die Wohnung die bereits seit vielen Jahren das zuhause ist – die Angst davor sie zu verlieren, weil die Mieten explodieren, oder im Zuhause zu frieren, darüber krank zu werden, weil das Geld nicht mehr zum Heizen reicht, dass alle eint viel zu viele Menschen auch in Marburg.

Einige konkrete Beispiele gefällig?

Eine alleinerziehende Mutter in Marburg/Cappel bewohnt mit ihrer behinderten Tochter eine Sozialwohnung bei der GWH. Nachts erdrücken sie die Sorgen, denn bereits letztes Jahr stieg die Miete um 15% an jetzt soll die Miete wieder um 15% steigen, denn es liegt ein sogenannter Indexmietvertrag vor, der eine Erhöhung gemessen an der Inflation vorsieht. Selbst wenn sie bei erfolgreicher Antragsannahme Wohngeld erhält, es kann doch nicht sein, dass mit staatlichem Zuschuss die Wohnbaugesellschaften sich die Taschen vollstopfen! Selbst die städtische Wohnbaugesellschaft GeWoBau bietet Indexmietverträge an, wie ich kürzlich durch die Antwort auf meine kleine Anfrage an die Stadt Marburg herausfinden konnte.

Oder, wir alle erinnern uns an den Beginn der Februar-Stadtverordnetenversammlung, als der AStA Marburg eine Petition an uns einreichte, gerichtet an die Landes- und Stadtregierung, um gegen die katastrophale Wohnmisere der Studierenden endlich aktiv zu werden. Aufgrund der angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt und der begrenzten Wohnheimplätze des Studentenwerks haben viele große Schwierigkeiten eine Unterkunft zu finden. Geschweige denn bezahlbaren Wohnraum. In kurzer Zeit meldeten sich über 90 Studierende beim AStA Marburg, die keine Unterkunft hatten oder haben.

Manche hatten noch Glück in völlig überteuerten Hotels, oder Airbnbs unterzukommen, manche teilen sich zu Dritt ein WG-Zimmer, andere nehmen einen Anreiseweg von bis zu vier Stunden auf sich. Einige junge Menschen schämten sich überhaupt beim AStA vorzusprechen, weil sie annahmen selbst daran schuld zu sein, kein Zimmer gefunden zu haben. Wie weit die Not reicht verdeutlicht ein krasser Fall, ein Kommilitone suchte im Wald nach einem geeigneten Zeltplatz und schlief dort selbst bei eisigen Minustemperaturen! Definitiv keine Bedingungen um den Kopf für ein Studium frei zu haben!

Deshalb in Zeiten immer größerer Krisen und unsicherer Zeiten, darf mit dem kostbaren Gut Wohnen nicht für Kapitalanleger eine Goldgrube entstehen. Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum nimmt stetig zu, viele Menschen in Marburg müssen mittlerweile mehr als 50% ihres Verdients in die Unterhaltung ihrer Wohnung investieren. Im Durschnitt muss man in Marburgs Innenstadt 10€/qm für die Kaltmiete aufbringen. Zusätzlich kommen mit den gestiegenen Energie- und Lebensmittelkosten bei einer ebenfalls steigenden Inflationsrate von mehr als 10% weitere unüberschaubarer Belastungen hinzu.

Wohnungspolitik muss Teil der Sozialpolitik sein -aus dem einfachen Grund, weil alle Menschen das Recht auf ein menschenwürdiges und leistbares Wohnen haben. Nur die wenigsten können sich ihre Traumwohnung leisten. Immer öfter flattern in die Haushalte Hochglanzwerbebroschüren privater Bauträger, in denen der Wohntraum prächtig präsentiert wird. Eine Glitzerillusion für viele – eine Goldgrube für wenige Anleger.  Für einen immer größer werdenden Teil der Menschen sind sogenannte normale Wohnungen aber nicht mehr leistbar.

Nicht nur Menschen die prekär Beschäftigt sind und zu den Transferleistungsbeziehern gehören kommen dadurch in enorme Bedrängnis, sondern immer öfter auch Vollzeitbeschäftigte. Hier erfährt dann der „Traum vom Wohnen“ eine andere, eine realistischere Bedeutung.
Neben den zu hohen Monatsmieten wird die Zahl von frei finanzierten Wohnungen, die – außer dem Wucher – keinerlei Mietzinsbeschränkungen unterliegen, ständig größer. Wo Investoren und Banken die höchstmögliche und sicherste Rendite suchen, finden sie sie auch. Finanziert von jenen, die aufgrund der hohen Nachfrage und des geringen Angebotes an leistbaren Wohnungen oftmals keine andere Möglichkeit haben, als Mietverträge zu haarsträubenden Bedingungen zu unterzeichnen.

In den letzten mindestens 25 Jahren wurden den Privatinvestoren durch sogenannte vorhabensbezogene Bebauungspläne rote Teppiche ausgerollt, ob in Marburgs Norden, ob im städtebaulichen Entwicklungsgebiet rund um den Hauptbahnhof, oder in der Innenstadt in Cappel, und bald rund ums Quartier Südbahnhof, überall glitzert es auf den Homepages aber vor allem klingelt es in den Kassen der privaten Bauherren. Deshalb begrüßen wir die längst überfällige Änderung im Hinblick auf künftige Bauprojekte, hin zu einer gemeinwohlorientierten Bodenpolitik, in der soziale und ökologische Aspekte im Vordergrund stehen! UND ZWAR OHNE AUSNAHME! Warum fragt man sich, wird bei dieser richtigen Entscheidung unter Punkt 4 die Türen für die Privatinvestoren wieder einladen weit auf gemacht?

Der Vorlage liegen bodenpolitische Strategien und Instrumente für die kommunale Praxis bei, das deutsche Institut für Urbanistik veröffentlichte dazu: “Aktive Bodenpolitik – Fundament der Stadtentwicklung“. Ob Stadtentwicklungsplaner aus Ulm mit einer Bodenbevorratungspolitik seit 125 Jahren, ob Volkswirtschaftler und Hochschullehrer, ob mit einer progressiv ausgerichteten Bodenpolitik in Münster, alle sind sich einig Grund und Boden sind ein knappes Gut, ohne das eine nachhaltige Stadtentwicklung nicht gelingen kann. Es geht schlicht um die Verantwortung für das Gemeinwohl und die Gewährleistung der Daseinsvorsorge.

Die Stadt Marburg, aber auch das Land und der Bund müssen in die Bodenbevorratung, sprich öffentliche Grundstücksgewinnung investieren, um ein Steuerungsmittel für bezahlbares Wohnen in den eigenen Händen zu haben und den privaten Anbietern was entgegen zu setzen. Gleichzeitig muss der ausschließlichen Gewinnorientierung durch private Immobilienhaie durch die gesetzlichen Vorschriften entgegengewirkt werden hin zu einer sozial, ökologisch orientierten Bauleitplanung – eben wie es durch den Grundsatzbeschluss für eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete aktive, sozialgerechte, nachhaltige und klimaneutrale Boden- und Liegenschaftspolitik zu recht heißt. Durch diese Planungen schafft die Stadt Marburg reale und nachhaltige Vermögenswerte für die Menschen und steuert der immer größer werdenden Wohnungsnot entgegen. Die Vorlage greift dies mehrheitlich auf, leider sind mit dem Punkt 4 die Ausnahmen möglich, deshalb können wir Punkt 4 der Vorlage nur ablehnen, denn er hält die über Jahre falschausgerichtete Bauentwicklung aufrecht.

Wohnen soll unsere Gemeinschaft stärken, Wohnen darf keine Ware sein. Wohnen bedeutet gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb gehören Wohnungen in öffentliche Hand, zukünftig gehören Wohnungsverkäufe an große gewinnorientierte Wohnbaugesellschaften verboten."